Interview Viviane Guéra

Viviane Guéra ist 33-jährig, verheiratet mit einem Sekundarlehrer und hat zwei Kinder (drei Jahre und vier Monate). Sie arbeitet fünfzig Stellenprozent in der Inneren Medizin im Tiefenau Spital Bern zum Erlangen des vollständigen Facharzttitels Innere Medizin.

07.03.2022

Eveline Tissot

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Was gefällt dir an der Arbeit in der Medizin?
Ich empfinde es als grosses Privileg, Einblicke in die unterschiedlichsten Lebenswelten zu erhalten. Im Studium dachte ich, das Coole sei, die richtige Diagnose zu stellen. Heute sehe ich das anders: Sie besteht darin, das Bedürfnis der Patient:in zu erfassen und eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage zu schaffen.

Welche Facharztrichtung war während des Studiums dein Ziel?
Keine, ich wusste nicht was ich wollte. Ich habe sehr gerne studiert, aber die Praktika im vierten und fünften Studienjahr haben mich nicht wirklich gepackt. Dann gab es ein Schlüsselerlebnis: ich brach mir den Arm – und ein Hausarzt konnte mich behandeln. Das hat mich schwer beeindruckt. Seitdem wollte ich Hausärztin werden. Während meiner Ferien in der Lenk ging ich spontan bei Lehrarzt Dr. Hählen vorbei und fragte, ob ich bei ihm ein Wahljahr-Praktikum machen könne. Das Praktikum bei ihm hat mir so gut gefallen, dass ich später auch mein erstes Jahr als Assistenzärztin bei ihm absolvierte und mich für die Allgemeine Innere Medizin entschloss.

Wie hast du deine Stellen geplant? Was hat dich dazu motiviert? Wie hast du dich informiert?
Mein erster Chef meinte, die Orthopädie sei als Hausarzt sehr wichtig und organisierte telefonisch für mich eine Anschlussstelle auf der Orthopädie in Thun. Dort habe ich ausserdem ein halbes Jahr auf dem chirurgischen Notfall gearbeitet. Alles in allem eine super Erfahrung! Dort wurde mir klar, dass ich eher das Problem finden will, als es zu beheben. Chirurgische Fächer schieden für mich daher aus. Auch mit der Arbeit auf der Intensivstation wurde ich nicht so richtig warm – was daran liegen könnte, dass ich schwanger und mir deshalb permanent übel war. Vor Kindern als Patient:innen hatte ich immer Respekt. Eine Weiterbildung in der Pädiatrie fand ich daher sinnvoll und ich suchte meine nächste Stelle im Kinderspital. Seit ich selbst Kinder habe, ist mir Pädiatrie langfristig emotional zu belastend. Die Innere Medizin ist für mich eher das Pflichtprogramm zum Erlangen des Facharztes für Allgemeine Innere Medizin. Vom Spital in Aarberg und vom Tiefenau Spital hatte ich viel Gutes gehört. Seit ich Kinder habe, spielt auch der Arbeitsweg eine entscheidende Rolle in meiner Planung.

Welche Erlebnisse prägten deine Karriere?
Neben dem erwähnten Armbruch war die erste Schwangerschaft wohl auch ein solcher Schlüsselmoment. Plötzlich war es für mich nicht mehr okay, dass man bei der Arbeit ungefragt über mich verfügt – zum Teil auch über die gesetzlich gegebenen Grenzen hinaus.

Wie sieht ein durchschnittlicher Tag als Mutter und Assistenzärztin der Inneren Medizin aus?
Als ich in Aarberg arbeitete, stand ich um sechs Uhr auf, damit ich um halb acht mit der Arbeit beginnen konnte: Vorbereitungen, Besprechungen mit den Pflegenden und den Oberärzt:innen, Visite und Dokumentation. Mein Mann brachte unseren Sohn in die Kita, das hätte mir an Arbeitstagen nie gereicht. Die morgendliche Kaffeepause gab mir Zeit mal durchzuatmen. Wir nahmen uns auch als Team Zeit für eine halbstündige Mittagspause. Danach erledigte ich die Organisation von Therapien und Reha-Aufenthalten, hatte allenfalls vertiefte Gespräche und kümmerte mich um die Dokumentation. Ich arbeitete so schnell wie möglich, damit ich zwischen fünf und sechs Uhr das Spital verlassen und meinen Sohn vor dem Einschlafen wenigstens noch kurze Zeit sehen konnte.

Das klingt alles sehr getaktet und stressig? Hattest du genügend Zeit für alles?
Zu dieser Zeit nicht. Ich habe Vollzeit im Spital gearbeitet und versucht, jede freie Minute mit meiner Familie zu verbringen. Vielleicht kann man es so sagen: “Work” hat zu dieser Zeit knapp gestimmt, weil ich durch meine Routine gut vorankam und abends einigermassen früh wieder nach Hause gehen konnte. “Life” kam jedoch zu dieser Zeit klar zu kurz. Mein Kind und meinen Mann habe ich zu wenig gesehen und er hat sich zuhause eigentlich um alles gekümmert. Zu Beginn meiner Assistenzzeit wäre das nicht möglich gewesen, weil man in der ersten Zeit für alle Arbeitsschritte länger braucht. Während meiner zweiten Schwangerschaft habe ich zu 50 Prozent im Tiefenau Spital gearbeitet. In dieser Zeit stimmte es bezüglich “Life” besser, aber mit einer 50-Prozent-Anstellung ist es schwieriger, bei der Arbeit Befriedigung zu finden.

Wie bringst du Freizeit, Familie und Beruf unter einen Hut?
Die bisher beste Organisationsform hatte ich auf dem Kindernotfall mit einem 80-Prozent-Pensum. Durch die Schichtarbeit war ich auch mal nachts oder abends weg, die Planung war sehr gut und frühzeitig und ich konnte Überzeiten zeitnah kompensieren. In dieser Zeit hatte ich nicht permanent das Gefühl, entweder bei der Arbeit oder zuhause etwas zu verpassen. Wenn ich Vollzeit arbeitete, kam gefühlt zu Hause alles zu kurz. Bei 50 Prozent hatte ich immer den Eindruck, Patienten schon wieder zu übergeben, kaum hatte ich mich eingelesen. Der Alltag war von deutlich mehr Dokumentation und Übergaben geprägt, was nicht befriedigend war. Generell: Für Freizeit bleibt eigentlich keine Zeit.

Ist es eine gute Idee, in der Assistenzzeit Kinder zu bekommen?
Ich finde schon. Ein Kind hilft eine andere Sicht auf unsere Arbeit zu bekommen und die ist dringend nötig. In den ersten Assistenzjahren werden viele Überstunden gemacht – und erwartet. Pausen werden nicht eingefordert und Personalengpässe werden durch Kolleg:innen abgedeckt, die verdientermassen frei haben sollten. Direkt nach dem Studium faszinierte mich dieses Gefühl des permanenten Gebrauchtwerdens – damals habe ich mich nicht ausgenutzt gefühlt. Seit ich Mutter bin, haben sich meine Ansichten verändert. Aushelfen ist richtig und wichtig – aber ich bin nicht mehr bereit, eine mangelhafte Planung und personelle Unterbesetzung auf Kosten meiner Familie zu kompensieren.

Wie kann man sich gegen Überstunden und die Erwartungshaltung wehren?
Wenn ich mit der Stationsarbeit fertig war, habe ich mich abgemeldet und bin nach Hause gegangen. Die Dokumentation habe ich nicht jeden Tag perfekt erledigt, sondern beim Austritt oder bei der Übergabe von Patient:innen. Wenn mich jemand bei Dienstende gefragt hat, ob ich noch eine Punktion oder ein Sono machen will, habe ich Nein gesagt. Das wurde von allen sehr gut verstanden.

Gab es im Zusammenhang mit deinen Schwangerschaften Probleme während deinen Anstellungen?
Ja, im Vorfeld schon. Ich hatte beide Mal ein schlechtes Gewissen, als ich meine Vorgesetzten über die Schwangerschaft informieren musste. Ich dachte an die Probleme bei der Dienstplanung und dass sich durch mich alles verkompliziert.
Als ich meine ersten Schwangerschaft beim HR im Inselspital meldete, lag mein Vorstellungsgespräch ein Jahr zurück und ich sollte die Stelle gemäss Plan gegen Ende der Schwangerschaft antreten. Der Herr vom HR hat mir empfohlen, ich solle doch meine Anstellung um sechs Monate nach hinten verschieben. Das hätte enorme rechtliche und finanzielle Nachteile mit sich gebracht und ich bin froh, dass ich mich nicht dazu habe überreden lassen. Während der Arbeit waren alle jeweils sehr rücksichtsvoll und ich habe keine negativen Erfahrungen gemacht.

Würdest du deine Assistenzzeit rückblickend wieder so machen?
Es würde Druck wegnehmen, wenn man schon wüsste, welche Facharztrichtung man will – aber das kann man ja nicht erzwingen. Daher würde ich wieder “suchend” durch die Stellen gehen. Auch die Kinderplanung würde ich wieder intuitiv machen und nicht nach Karriereplanung. Aufs ganze Leben gesehen hätte ich nicht viel gewonnen, wenn ich früher Oberärztin geworden wäre.

Gibt es Sachen, die du rund um deine Assistenzzeit bereust?
Ich würde heute früher und selbstsicherer Bescheid sagen, dass ich schwanger bin. Das Team auf der IPS hat ausgesprochen rücksichtsvoll reagiert und mich zum Beispiel vor aggressiven Patient:innen geschützt. Niemand hat darüber zu urteilen, ob und zu welchem Zeitpunkt ich schwanger bin. Ich würde versuchen, kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, weil eine Schwangerschaft die Dienstplanung etwas komplizierter machen kann.

Welche Infos haben dir in der Planung deiner Karriere gefehlt?
Ich hätte mich früher zur Rechtslage von Assistenz:ärztinnen informieren sollen. Dann hätte ich gewusst, dass man mir nicht kündigen darf, weil ich aufgrund der Schwangerschaft in der Probezeit ausgefallen bin.

Wo willst du in 10 Jahren stehen?
Ich arbeite dann zu 80 Prozent als Oberärztin auf einer Notfallstation oder in einer ländlichen hausärztlichen Sprechstunde und meine Kinder gehen zur Schule.

Welche Tipps möchtest du jüngeren Kolleg:innen mitgeben?
Seid ehrlich zu euch selbst: Man darf sich eingestehen, dass einem eine Stelle nicht gefällt oder nicht gut tut. Man darf kündigen, man darf wechseln, man darf suchen. Wir finden immer wieder eine Anstellung. Und es geht neben der Arbeit ja auch ums Leben.

Und seid ehrlich den anderen gegenüber: Man muss sich nicht immer supermotiviert und kompetent darstellen. Man darf sagen, wenn man etwas nicht weiss oder kann oder wenn man gerade müde oder nicht gut drauf ist. Das ist wichtig zum Schutz der Patient:innen und für sich selbst.

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