Interview Nele Pfeiffer

Nele Pfeiffer ist 33-jährig und ledig. Sie arbeitet seit 2020 im Inselspital als Assistenzärztin und steht kurz vor dem Abschluss des Facharztes in Orthopädie und Unfallchirurgie.

17.03.2022

Eveline Tissot

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Warum hast du dich für Orthopädie entschieden?
Für mich ist Orthopädie das schönste Fach, ich kann mir auch nichts anderes vorstellen. Man hat mit allen Arten von Patient:innen zu tun: junge und alte, Frauen und Männer und man kümmert sich um ganz unterschiedliche Themen wie Frakturen, degenerative Erkrankungen, Operationen, konservative Behandlungen und so weiter. Besonders toll ist die Abwechslung für mich: keine Fraktur ist gleich, keine Arthrose ist gleich, es ist immer wieder neu und anders, man muss immer wieder kreativ werden und sich etwas einfallen lassen.

Wolltest du schon immer Orthopädin werden?
Ja, ich habe mir nie über eine andere Fachrichtung nachgedacht.

Wie sieht dein typischer Tag als Orthopädin aus?
Um Viertel nach sieben haben wir Morgenrapport. Da besprechen wir die Notfallpatienten. Gerade bin ich auf dem Notfalldienst und betreue dort die orthopädischen Notfallpatienten konsiliarisch. Jeden Tag erwartet einen ein Überraschungspaket. Im Ops oder in der Sprechstunde arbeiten wir bis etwa 17 Uhr, wobei wir selten pünktlich Feierabend haben. Die Notfalldienste sind 12-Stunden-Dienste, von 8 bis 20 Uhr oder von 20 bis 8 Uhr.

Was sind besondere Herausforderungen deines Fachgebiets?
Meistens ist viel zu tun, meistens weiss man auch vorher nicht so genau, was auf einen zukommt – das gefällt mir sehr gut. Im Notfall hat man eine breite Palette mit vielen Überraschungen. Bei der Sprechstunde und im Ops kann man am Vortag sehen, was geplant ist, aber muss recht flexibel sein – es kommt doch immer anders. Ja, die Flexibilität und die langen Tage sind die grössten Herausforderungen.

Wie hast du deine Stellen geplant? Was hat dich jeweils motiviert?
Auf meine erste Stelle in Heiligenschwendi habe ich mich einfach beworben, weil ich die Berge mag und die Gegend schön aussah. Ich dachte, dass eine Rehaklinik und Medizin für den Einstieg gut sind und die Kaderärzte dort mehr Zeit haben für Teaching. Dort habe ich dann erzählt, dass ich im weiteren Verlauf Ortho/Trauma machen möchte und so haben mir die Kolleg:innen Thun als nächste Station empfohlen. Für den Facharzt muss man zwei Jahre in einem A-Spital gewesen sein. Von Thun aus bin ich deswegen in die Insel gegangen. Ich habe mich dort beworben und meine Vorgesetzten haben mich dann sozusagen dahin vermittelt.

Wird man nur weitervermittelt, wenn man sich sehr gut mit den Vorgesetzten versteht?
Man sollte sich natürlich nicht wie der grösste Vollidiot benehmen, aber ansonsten ist es Gang und Gäbe, dass man viel Unterstützung von den Vorgesetzten bekommt.

Was hat dich motiviert, diese Stellen anzunehmen?
Thun war naheliegend, da ich eh schon dort gewohnt habe, mir die Gegend so gut gefallen hat und das Spital toll war. Für Orthopädie/Unfallchirurgie bot sich die Insel als A-Spital an – das ist auf gewisse Art ein Nadelöhr, man hat nicht unendlich viele Auswahlmöglichkeiten. Für mich kam eigentlich nur die Insel in Frage, weil ich nicht umziehen wollte. Eine Alternative wäre der Sonnenhof gewesen, aber ich hatte das Gefühl, es wird schon erwartet, dass man an einem Unispital als A-Spital war. Oder Fribourg, aber dafür hätte ich umziehen müssen. Also war die Insel meine Wahl.

Wie geht es dir mit der Work-Life-Balance?
Wenn man auf einen geregelten Arbeitstag Wert legt und jedes Wochenende frei haben will, dann ist die Orthopädie/Traumatologie, wie wahrscheinlich alle chirurgischen Fächer, mit Sicherheit die falsche Wahl. Das ist ja kein Geheimnis. Es kommt halt darauf an, wie viel man bereit ist zu investieren. Man arbeitet als Chirurg:in viel und hat wenig Freizeit, aber auf der Orthopädie/Unfallchirugie habe ich bis jetzt nur coole und nette Arbeitskolleg:innen gehabt. Und wenn man sonst nicht viel Freizeit hat, dann werden die Kolleg:innen irgendwann auch deine Freunde.

War Teilzeit für dich je ein Thema?
Ich kenne ehrlich gesagt niemanden, die oder der in der Orthopädie/Unfallchirurgie als Assistent:in Teilzeit gearbeitet hat. Es ist sicherlich möglich, aber ich kenne niemanden. Auch für mich war das kein Thema.

Gibt es unter deinen Kolleg:innen Eltern?
Bei den Assistent:innen gibt es einige Väter, aber keine Mütter.

Wie gehst du mit der maximalen Soll-Arbeitszeit um? Wird sie eingehalten?
Schon alleine wegen der Pikett-Dienste ist es fast nicht möglich, die Soll-Arbeitszeit einzuhalten. Das geht ja allen so – auch den Ober- und den Leitenden Ärztinnen und Ärzten– ein bekanntes Problem. Mit den aktuellen Strukturen ist das nicht möglich, da muss man sich auch nichts vormachen.

Wäre es eine Lösung, mehr Mitarbeitende anzustellen?
Ja, bis zu einem gewissen Grad sicherlich – aber die Tendenz geht ja in die andere Richtung. Wenn es die perfekte Lösung für alle gäbe, wäre sie wohl schon da. Bei uns ist es immer eine Gratwanderung – wir müssen unseren OP-Katalog vollkriegen. Je mehr Leute in der Abteilung arbeiten, desto langsamer füllen sich die einzelnen Kataloge. Gleichzeitig würde es natürlich helfen, wenn man drei statt zwei Schichten hätte. Aber die perfekte Lösung habe ich auch nicht auf Lager.

War dein Arbeitseinsatz immer gesund?
Gesund ist das sicherlich nicht. Man lernt mit der Zeit einfach damit umzugehen. Wahrscheinlich würden Aussenstehende sagen, man stumpft ab, aber ich denke, das ist ein Schutzmechanismus. Man kann sich nicht jedesmal bei der Arbeit psychisch und physisch voll einbringen, das schafft man nicht. Daran würde man irgendwann kaputt gehen.

Hast du Resilienztipps für den Umgang mit diesen langen Arbeitstagen?
Wenn mir etwas nahe geht, unterhalte ich mich mit meinen Kolleg:innen darüber und sie machen das genauso. Das hilft am meisten – denn das sind ja alles Sachen, die deine Kolleg:innen auch schon erlebt haben. Es hilft schon sehr, wenn man merkt, dass man nicht die einzige ist, der das passiert oder die das erlebt hat.

Was muss man zum Logbuch wissen?
Man braucht für den Facharzt Ortho/Trauma einerseits einen OP-Katalog, also Prothesen, Prothesen-Revisionen, artikuläre und nicht-artikuläre Frakturen, Weichteil-Eingriffe, rekonstruktive Eingriffe und so weiter – dafür braucht man Jahre. Dazu kommt, dass man zwei Jahre an einem A-Spital arbeiten und diverse Zwischenprüfungen und Kurse besucht haben muss. Das ist viel Aufwand, aber es zwingt einen zum Lernen.

Wann sollte man sich mit dem Katalog vertraut machen, wenn man Orthopädie/Unfallchirurgie machen möchte?
Früher oder später landet man ja immer im OP und die Oberärztinnen und -ärzte wissen eigentlich sehr genau, was man braucht. Mit etwas mehr Routine und Erfahrung weiss man dann auch selber genauer, was noch fehlt. Und dann getraut man sich den Oberärzt:innen zu sagen: "Mir fehlt noch dies und jenes, darf ich das bitte mal machen?" In der Regel ist es dann auch möglich.

Spürst du als Frau Nachteile?
Manchmal hat man den Eindruck, sich vielleicht ein bisschen mehr beweisen zu müssen als Männer. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass man mir den Job nicht zutraut, weil ich eine Frau bin. Früher oder später kommt halt die Frage nach der Familienplanung. Ich glaube, zumindest die Zeit als Assistenzärztin ist mit Familie nicht vereinbar. Ich glaube, man muss beweisen, dass man es durchziehen will. Die Kaderärzte:innen möchten ihre Zeit lieber in diejenigen Kandidat:innen investieren, die dran bleiben und motiviert sind. Auch für sie ist es ja Aufwand, den Assistent:innen etwas beizubringen.

Kommt es vor, dass du dich als Frau in der Orthopädie nicht ernstgenommen fühlst?
Manchmal schauen Patient:innen schräg, wenn man sagt: “Ich arbeite in der Orthopädie,” weil sie das anscheinend nur von Männern kennen. Teilweise werde ich aber auch von ärztlichen Kollegen:innen ganz überrascht angeguckt – und das finde ich schon ein bisschen traurig. Vielleicht auch, weil ich eher klein bin. Wenn ich mit einem männlichen Studenten unterwegs bin, wird manchmal er für den Orthopäden gehalten und die Leute denken, ich sei die Studentin. Da das glaube ich allen Ärztinnen häufiger passiert, reagiert man mit der Zeit schon etwas empfindlich. Schliesslich leben wir im 21. Jahrhundert!

Wie reagierst du?
Wenn Patient:innen mich fragen, wann denn der richtige Arzt kommt, dann sage ich: “Ich bin der Arzt und ich bin eine Ärztin.” Häufig sind sie dann überrascht und entschuldigen sich. Wenn mir ärztliche Kollegen sagen: “Ach was, du machst Ortho?”, dann sage ich: “Natürlich mache ich Ortho – sonst wäre ich ja nicht hier”. Die nächste Frage ist dann oft “Dann willst du sicher Handchirurgie machen?” Ich glaube, man muss da einfach klar und direkt Kontra geben. Nur so lernen die anderen dazu.

Würdest du deine Karriere wieder so planen oder was würdest du anders machen?
Ich habe sicherlich nicht den schnellsten Weg zum Facharzt gewählt. Am Anfang habe ich noch ein Jahr Medizin gemacht – in dem Bewusstsein, dass es mir für den Facharzt “nichts bringt” – einfach, weil ich finde, dass ein gewisses medizinisches Basiswissen dazu gehört. Heute kann man ja den Facharzt mit sechs Jahren “nur” orthopädisch/traumatologischer Weiterbildung machen. Früher ging das nicht. Ehrlich gesagt riskiert man meiner Meinung nach, dadurch schon in der Ausbildung zum Fachidioten zu werden. Da man ja in der Orthopädie zum Beispiel auch häufig ältere Menschen behandelt, die meistens Nebenerkrankungen haben, hilft es schon, ein Jahr Medizin gemacht zu haben. Seit 2018 wird das auch als Fremdjahr anerkannt – ich würde das allen empfehlen, um über den Tellerrand hinauszublicken.

Welche Ratschläge gibst du jüngeren Kolleg:innen?
In Bezug auf die Arbeitszeiten: Man muss sich vollkommen bewusst sein, dass es ein arbeitsintensiver Job ist. Und wenn man merkt, dass dieser Job nichts für einen ist – wegen der Arbeitszeiten oder wegen des Faches – dann sollte man sich nicht schämen und wechseln. Auch wenn man vielleicht zwei, drei Jahre verliert. Schliesslich macht man diesen Beruf sonst 30 oder 40 Jahre lang.

In Bezug auf Situationen, die einem nahe gehen oder in denen es einem nicht gut geht: immer darüber reden. Noch nie hat ein:e Kolleg:in zu mir gesagt: “Geh weg, das will ich nicht hören.” Im Gegenteil, alle waren sehr verständnisvoll und die meisten haben selbst schon unter ähnlichen Situationen gelitten.

Wo willst du in zehn Jahren stehen?
Ich bin niemand, der seine Zukunft gross im Voraus plant. Insofern… in zehn Jahren möchte ich in der Orthopädie und Unfallchirurgie mein Spezialgebiet gefunden haben und das weitestgehend routiniert beherrschen. Natürlich hoffe ich, dass ich dann immer noch viel Spass an der Arbeit habe.

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